A Gutjse uff em Backe

Die Sprache sei dem Menschen gegeben, um seine Gedanken zu verbergen, bemerkte einst der Franzose Talleyrand gegenüber dem spanischen Botschafter. Als Staatsmann und Wendehals wusste er wohl, wovon er sprach. Sprache kann beschwichtigen und verschleiern. Mit ihr lässt sich Unschönes mit schönen Worten ausdrücken. Man denke an so wohlklingende Ausdrücke wie Entsorgungspark, sozialverträgliches Frühableben, Freistellung oder Minuswachstum. Euphemistische Wortschöpfungen dienen aber nicht einfach nur der Beschönigung und Verhüllung von Aspekten, die als negativ empfunden werden, sondern sie enthalten auch Elemente der bewussten Täuschung. Kein Wunder also, dass sie bei Politkern beliebt sind, wie überhaupt bei Entscheidern jeder Art, wenn aus Motiven wie Profilierungs- und Profitdenken die eigenen Interessen ohne Gesichtsverlust durchgesetzt werden sollen; sicher auch um das schlechte Gewissen zu beruhigen.
SCHWALLJEE

                                         ©  
Karin-Anne Beckers
 Eine herausragende Stellung nehmen Fremdwörter ein: Zum einen, weil sich mancher über ihre Bedeutung nicht im Klaren ist. Auf diese Weise wird eine künstliche Undurchsichtigkeit erzeugt. Zum anderen, weil sie als elegante Variante des entsprechenden deutschen Ausdrucks gelten wie z. B. Seniorenresidenz, Pazifikation und Flexibilität. Unter dem Einfluss des globalisierten Englisch besonders des Business-English wird fast alles Unangenehme zu verschleiern versucht und das Alltägliche herausgeputzt. Outsourcing und Lean Production kaschieren Entlassungen, die Payback Card erweckt den Anschein, als würde einem etwas rückerstattet, Personal-Controlling ist nichts anderes als Mitarbeiterkontrolle, Social Engineering Bespitzelung und Productplacement Schleichwerbung. Als Marketingexperte in eigener Sache stellt man etwas in die Pipeline, wenn man etwas auf den Weg bringen möchte und rennt von einem Meeting zum anderen. Mit einer solchen Beeindruckungsrhetorik wird selbst das Gewöhnliche aufgewertet: die schnöde Steckdose wird zum Power Point, der Hausmeister zum Facility Manager und der Lehrling zum Trainee, dem dadurch zusätzliche Career-Options eröffnet zu sein scheinen. Kein erwachsener Mensch käme wohl auf die Idee, mit einem Kinderroller durch die Stadt zu fahren, wenn man diesen nicht Kickboard nennen würde. Alter Wein in neuen Schläuchen findet man auch in der Mitarbeiterführung. So ist das Management by walking around nichts anderes als der gute, alte Chefrundgang und das Management by Delegation nichts als die Vertuschung von Entscheidungsschwäche.
SCHWOLLESCHEE 

                   ©  Karin-Anne Beckers
Diesen hochtrabenden Täuschungsversuchen ist nur noch der Dialekt gewachsen, der als regionale Antwort auf die gleichmacherische Globalisierung in jüngster Zeit eine erstaunliche Dynamik entwickelt. Im Gegensatz zur Hochsprache erlaubt die Mundart mehr Lässigkeit und mehr Emotionen. Was immer wieder überrascht, ist ihr respektloser und antipathetischer Umgang mit inhaltslosen Redefloskeln, die gewichtig daher kommen und gescheit wirken wollen.
 »Mer losse uns kää Gutsje uff de Backe mole«, heißt es in Mainz. Wie einfallsreich und entlarvend der Mainzer Dialekt sein kann, zeigt sich in der Übernahme französischer Ausdrücke vor allem in der Zeit zwischen 1797 und 1814, in der Mainz und Rheinhessen als Département Mont Tonnere dem französischen Staatsgebiet einverleibt war. Während die meisten so genannten Gallizismen in der Hochsprache im Schrift- und Lautbild unverändert geblieben sind, wurden sie der Mundart zunächst einmal durch eine Lautverschiebung angepasst wie etwa Wisawi (frz. vis à vis = gegenüber), pee a pee (frz. peu á peu = Stück für Stück), Kurasch (frz. courage = Mut), Bulwerschmaa (frz. bouleversement = Durcheinander) oder dischbediere (frz. disputer = streiten). Schon allein der neue Klang verleiht den durchaus vornehm klingenden französischen Ausdrücken etwas Derbes und Deftiges. Ja, man könnte sogar sagen, der Mainzer wie auch der Rheinhesse macht sich über sie lustig und reißt damit den Besatzern die Maske vom Gesicht.
DEPPEDDE

©  Karin-Anne Beckers
Es ist sicher nur die halbe Wahrheit, dass den Menschen, die zur Franzosenzeit überwiegend in einfachen Verhältnissen lebten, eine korrekte Aussprache des Französischen nur schwer möglich gewesen sei. Man unterschätzt dabei die subversive und karikierende Kraft der Volkskultur. Betrachtet man die französischen Lehnwörter aus dem Bereich der Politik, Verwaltung und Justiz, die auf den Alltag angewandt wurden, dann wird das Renitente und Entlarvende der Mundart klar. Was die Mainzer generell von der französischen Republik hielten, die ab 1799 unter Napoleon allmählich zu einem halbdikatorischen Regime mit plebiszitären Elementen mutierte, zeigt sich wie in einem Brennglas in der Bedeutungsverschiebung von le fagot, dem Reisigbündel und bedeutenden Symbol der frisch errungenen Volkssouveränität, zu dem Mainzer Begriff Fachot für Sprüchmacher. Dementsprechend wurde der Procureur de l’état (der Oberstaatsanwalt) als Staatsproggerader und der Chevalier (der Ritter der Ehrenlegion) als Schwalljee zur Bezeichnung eines Schwätzers und Angebers, der Deputé (der Abgeordnet) als Deppedde zu einem Depp und die Chevau-légers (die Soldaten der leichten Kavallerie) als Schwolleschee zu Lackaffen. In dieser Linie steht auch die Briambel (frz. le préambule = Vorrede) für weitläufiges Geschwätz. Welche Rolle die Mainzer dem vornapoleonischen Souverän, dem Volk (frz. le peuple) zuwiesen, lässt sich in dem Verb aappeewele (jemanden durch freche, unflätige Worte provozieren) nur noch erahnen. 
»Da is kei Wort französisch«, sagt der Mainzer und meint damit im übertragenen Sinne, dass hier nichts beschönigt wird. Hoffentlich behält er recht!


Abdruck in: Mainzer Vierteljahreshefte für Kultur, Politik, Wirtschaft und Geschichte 2/11, S. 4ff. www.mainz-hefte.de 

Mainz – die Kaderschmiede. Eine Spurführung

Sind Sie neugierig, und schauen gerne hinter die Dinge?  – Nun dann verfügen Sie sicher auch über eine ausgeprägte Beobachtungsgabe. Sie waren auch gewiss schon einmal auf einem Maskenball? Dann ist Ihnen im wilden Durcheinander ohne Zweifel nicht entgangen, dass selbst das schlichteste Kostüm, das seinen Träger eigentlich verbergen sollte, nichts anderes tut, als ihn – im Gegenteil – zu verraten. Wer sich maskiert, kehrt sein Innerstes nach außen, seine geheimsten Wünsche und Hoffnungen, seine Bedürfnisse und Leidenschaften, seinen Drang nach Aufmerksamkeit wie auch nach Anpassung, kurzum der ganze Mensch steckt in der Maske.
Was für den Einzelnen gilt, gilt auch für eine ganze Stadt. Gerade hinter der Maske offenbart sie ihr wahres Gesicht. Womit wir bei der Mainzer Fastnacht wären. In den unterschiedlichsten Handlungen und Ereignissen, die sich zu einem ausgelassenen und bunten Treiben verknüpfen, stülpt sie eine ganze Maske über Jung und Alt. Kein Mainzer kann sich dem entziehen. Die Fastnacht drückt ihm ihren Stempel auf und webt sich Jahr für Jahr in seine Denk- und Lebensart hinein.
Was aber verrät sie über den Mainzer an sich? Zunächst einmal, dass er ein einfallsreiches und erfinderisches Wesen ist; er ist kreativ, wie man im Marketingdeutschen so schön sagt, was während der Fastnacht aber kein bloßes Lippenbekenntnis ist. Denn er muss aus einer unendlichen Vielzahl an Möglichkeiten ein Kostüm auswählen oder zusammenbasteln, das seinen Anforderungen und Wünschen entspricht, wenn er nicht gerade zu einer Garde oder einem Fastnachtsverein gehört. Nicht selten kommt es dabei zu kuriosen Entscheidungen: Da verwandelt sich der brave Biedermann plötzlich in einen Schurken, der Umweltsünder in eine zarte Blume, der Harz-IV-Empfänger in einen Firmenboss und der Prüde in einen ungenierten Frauenheld. Männer werden zu Frauen und Frauen zu Männern. Das macht den Mainzer mit unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Denk- und Verhaltensmustern vertraut und erlaubt ihm die Einnahme eines Standpunktes jenseits des gewöhnlichen Lebens und gelegentlich auch jenseits der Logik. Darüber hinaus übt es ihn ein in Flexibilität und Toleranz.
Damit aber nicht genug: Die Fastnacht weist ihn obendrein als ausgesprochenes Zoon politikon aus. Denken wir an die Fastnachtsitzungen – wahre Schulen der Demokratie. Natürlich auch die Fastnachtsumzüge. Mit ihren Fahnen und Figuren, ihren Parolen und Symbolen gleichen sie politischen Demonstrationen und Massenkundgebungen. Hinter der Maske des Narren nimmt der Mainzer kein Blatt vor den Mund. In den Fastnachtssitzungen, die Parlamentsdebatten und Gerichtsverhandlungen parodieren, übt er sich darin, coram publico große Reden zu schwingen, ohne auch nur einzige Pointe auszulassen. Ja, der Mainzer ist redegewandt. Da fällt es nicht ins Gewicht, wenn seine Rede mit vernachlässigenswerten Obszönitäten gespickt ist, selbst in der Gestik, was ein klein wenig an den Südländer erinnert. Das Pathos ist dem Mainzer ebenso fremd wie die verdruckste Betroffenheit. In der Bütt legt er den Finger in die Wunde und nimmt jegliche Missstände aufs Korn, besonders aber die kleinen menschlichen Schwächen, über deren Verspottung er häufig sogar sein ewigwährendes Lamento über die hohen Steuern und die große Politik vergisst. 
© Karin -Anne Beckers
All das spiegelt sich auch in der besonderen Art seines Humors wider, den der Mainzer sich von Kampagne zu Kampagne antrainiert hat, und der von Fremden mitunter als sehr daneben, aber als äußerst lustig wahrgenommen wird. Wodurch er seinem Leben ungeachtet aller Erschwernisse und Erschütterungen komische Seiten abgewinnen und den kleinen und großen Katastrophen des Alltags mit einem Lachen begegnen kann. Sein Lachen gibt ihm die Gewissheit, jede nur erdenkliche Situation, sei es eine Finanz- oder Wirtschaftskrise, bewältigen zu können, indem es das Schreckliche herabmindert.
Der Mainzer lacht an Fastnacht über alles, besonders aber über das Hochstehende, das Ideelle und Abstrakte, er holt es damit herunter in den Bereich des Banalen. Für große revolutionäre Ideen ist er daher nicht zu begeistern. »Dess sinn doch alles Färz!«, wird er hierauf lapidar entgegnen, oder einfach nur »Kokolores«. Für Nichtmainzer werden solche Kommentare immer wieder als Zeichen seiner Behäbigkeit und Unfreundlichkeit gedeutet, obwohl sie eigentlich nichts anderes als Bodenständigkeit zum Ausdruck bringen wollen, die Dinge und sich selbst nicht immer allzu ernst zu nehmen. Das Lachen macht seinen Kopf frei, nimmt ihm den Druck und lässt ihn in Gleichmut der Dinge harren, die da kommen werden. «Heile, heile Gänsje. Es wird bald widder gut…« 
Der Mainzer lacht an Fastnacht aber nicht allein, sondern mit jedem, der auch nur in seine Nähe kommt. Fastnacht ist das Fest der Entgrenzung und der Integration. Was allein schon die Frage, »Wolle mer se roilosse« zum Ausdruck bringt, die bislang wahrscheinlich noch nie mit einem »Nein« beantwortet wurde. Im alkoholgeschwängerten Dunst der vielen Leiber gibt es keine Schranken und Hierarchien mehr, die Distanz ist aufgehoben. Singend, tanzend und klatschend hört der Mainzer auf, er selbst zu sein, um zu einem untrennbaren Teil des Ganzen zu werden, wenn auch manchmal nur für einige Sekunden. Dieses ekstatische Erlebnis festigt das Zusammengehörigkeitsgefühl auch außerhalb der Fastnacht und gebiert den typisch Mainzer Teamgeist, wie er sich etwa in der Fankultur von Mainz05 zeigt, wo es immer wieder zu neuem Leben erweckt wird. Nicht umsonst skandieren die Fans: »Wir sind nur ein Karnevalsverein!« Der Mainzer Fußball ist damit sozusagen die Fortsetzung der Fastnacht mit anderen Mitteln.
Und so können wir beinahe endlos fortfahren. Klar wird schon jetzt, dass dieser periodisch wiederkehrende Exzess Eigenschaften hervorbringt, die den Mainzer zu höheren Weihen befähigt, und zwar nicht nur im Fußball.
Die Gleichartigkeit von Politik und Fastnacht liegt auf der Hand. Beides durchdringt sich sogar. Allerdings bislang nur auf lokaler Ebene. Der Mainzer bleibt hier weit hinter seinen Fähigkeiten zurück. Was hindert ihn daran, Kanzler oder Präsident zu werden? Dank der Fastnacht ist er redegewandt, sitzungs- und gremienerfahren, er verfügt über Krisenbewältigungskompetenz, er kann organisieren, mobilisieren und nicht zuletzt Seilschaften knüpfen. Und soll einer sagen, er hätte keine Ausstrahlung! Man braucht sich nur die Fernsehsitzung anzusehen. Wie es hier funkelt und blitzt. Und dann die Einschaltquote! Viel höher als bei jeder Haushaltsdebatte im Bundestag.
Die Krisenbewältigungskompetenz, die der Mainzer in seinem Lachen unter Beweis stellt, ist nicht nur in der Politik, sondern auch in der Wirtschaft sehr gefragt. Das gilt ebenso für seine Kreativität, seine Flexibilität, seine Team- und Integrationsfähigkeit und Eigeninitiative. Alles Fähigkeiten, über die Führungskräfte verfügen sollen, und die durch teure Managementtrainings eingeübt werden, sei es, dass sich die High Potentials, wie man die Anwärter auf Führungspositionen nennt, einen Berg hinunterstürzen, oder einen Eierlauf absolvieren. Angesichts dieses Unfugs ist man leicht versucht zu sagen: Ja, dann schickt sie doch zur Mainzer Fastnacht ins Trainingscamp. Das ist billiger und allseits bewährt. Oder rekrutiert eure Führungskräfte doch gleich alle aus Mainz. In diesem Sinne ein dreifach donnerndes Helau! 

Abdruck in: Mainzer Vierteljahreshefte für Kultur, Politik, Wirtschaft und Geschichte 1/11, S. 5ff. www.mainz-hefte.de
 


Ein bisschen Hohoho...

 Vieles, was wir für gewiss erachten, ist gar nicht so gewiss, wenn wir es genau besehen. Das gilt auch für Traditionen, die wir für unverrückbar halten und unser Eigen nennen, obwohl sie wandelbar und fremden Ursprungs sind. So ist es inmitten des politischen Schlagabtauschs um Integration und Leitkultur – was auch immer das sein soll – eigenartig still um eine der herausragenden und traditionsbildenden Figuren mit Migrationshintergrund, welche wir Deutschen gerne für uns vereinnahmen. Die Rede ist natürlich nicht von dem Nationalspieler Mesut Özil oder dem Regisseur Fatih Akin, sondern vom Bischof Nikolaus von Myra. Es ist fast vergessen, dass er aus Kleinasien, der heutigen Türkei stammte. Ohne ihn wäre die typisch deutsche Ausprägung von Weihnachten gar nicht denkbar.
Dass der zugewanderte Heilige mit dem kettenrasselnden Knecht Rupprecht vielerorts am 6. Dezember die Stiefel oder Socken der Kinder füllt, ist ein Brauch aus dem Mittelalter, der für die Protestanten von Martin Luther in seinem Kampf gegen die Heiligenverehrung abgeschafft wurde. Er verlegte die Bescherung auf Weihnachten. Die Gaben brachte nun der »Heilige Christ«, eine allzu gestaltlose Figur, die bald zum Christkind verniedlicht wurde. 
Das Mysterium, wer oder was das ätherische Wesen, das man sich als weißgewandetes und blondgelocktes Mädchen vorstellt, nun eigentlich sei, ist nie aufgeklärt worden. Eines aber ist sicher, es symbolisiert nicht, wie häufig angenommen wird, das neugeborene Jesuskind.
Hierbei aber blieb es nicht. Denn der perfekt assimilierte Bischof von Myra forderte sein verlorenen gegangenes Terrain in Gestalt eines greisen untersetzten Herrn, den man bald Weihnachtsmann nennen sollte, zurück. Er verdrängte das Christkind aus den evangelischen Kreisen, so dass es Asyl in katholischen Familien suchen musste. Ausgestattet mit weißem Gottvaterbart und Herrenpelz zog es den mutierten Nikolaus mit den Auswanderern in die Neue Welt, wo ihn eine Limonandenfabrik in ihre Hausfarben, rot und weiß, tauchte, mit einer Zipfelmütze versah, die an deutsche Gartenzwerge erinnert, und auf einen gigantischen weltumspannenden Werbefeldzug schickte, der noch heute andauert. Seitdem herrscht in manchen Gegenden Deutschlands zwischen den Anhängern des Weihnachtsmannes und denen des Christkinds ein erbitterter Streit, der zu einem wahren Geschlechter- und Kulturkampf ausarteten kann.
Meist aber stehen beiden Figuren in der weihnachtlichen Dramaturgie brav und unhinterfragt nebeneinander: bei den Großeltern bringt das Christkind die Geschenke, bei den Eltern der Weihnachtsmann. Es könnte auch Rudolf das Rentier mit der roten Nase sein. In naher Zukunft vielleicht auch Hermes oder DHL? Auf alle Fälle würde man dann auch sie zur deutschen Weihnacht zählen und als Teil des christlich-jüdischen Kulturerbes bezeichnen.

Das Gedächtnis einer Stadt. Das heikle Widerspiel zwischen Müllhalde und Stadtarchiv

Geht es Ihnen nicht auch manchmal so, dass sie mitten im Gang durch die Stadt, oder wo auch immer, innehalten und sich verstört die Augen reiben? »War da nicht was?«, fragen Sie sich. »Fehlt da nicht etwas?« - Und tatsächlich: Der Kaugummiautomat an der Hauswand ist verschwunden; auch die Telefonzelle war eben noch da und ist plötzlich weg, die Bäckerei in der Nebenstraße oder der Trimm-Dich-Pfad im Gonsenheimer Wald, von der Postfiliale und dem Tante-Emma-Laden ganz zu schweigen.
Dinge verschwinden. Das ist nun einmal ihr Lauf. Und mit den Dingen gehen auch gewohnte Gedanken, Handlungsabläufe, Rhythmen und Gesten für immer verloren. Kommentarlos nehmen wir das hin. Ja, es fällt uns oft gar nicht auf. Obwohl uns derzeit so viele Dinge abhanden kommen. Man denke an die Schreibmaschine, die Trockenhaube, den Monokassettenrekorder, das Einkaufsnetz, die Klopapierrolle im gehäkelten Schutzüberzug auf der Hutablage im Auto und natürlich den Wackeldackel ebendort. Manches existiert noch heute, wenn auch in modifizierter Form. Vieles, was unsere Aufmerksamkeit und unser Interesse verloren, was sich abgenutzt hat oder zerstört wurde, ist zu Abfall geworden und auf der Mülldeponie gelandet. Einiges aber wurde aussortiert und Museen und Archiven zugeführt, um es dem Vergessen zu entreißen. Diese manchmal riesigen Archen, welche die Welt konservieren, die uns entgleitet, können als umgekehrtes Spiegelbild zu Mülldeponien begriffen werden. Die Grenze ist fließend. Verlust und Bewahrung liegen nahe beieinander. Damit der Abfall aber überhaupt die Chance eines Nachlebens hat, muss er über die Eigenschaft von Überresten verfügen, die dem Zahn der Zeit durch ihre Robustheit widerstehen.
Bei der Bewahrung kommt den öffentlichen Archiven wie etwa dem Mainzer Stadtarchiv eine besondere Rolle zu. Sie sammeln und erhalten neben Urkunden, Amtsbüchern und Akten der Vergangenheit, Dokumente aller Art, die bei staatlichen und nichtstaatlichen Einrichtungen wie Verbänden, Betrieben oder Privatpersonen entstehen, darunter nicht nur Schriftgut, sondern mittlerweile auch Bild- und Tonmaterial. Einen immer größeren Stellenwert nimmt dabei die Konservierung digitaler Daten ein. Das gesicherte und verzeichnete Archivgut wird dann, nach Ablauf gesetzlich verankerter Sperrfristen der Öffentlichkeit zur Benutzung und zu Forschungszwecken zur Verfügung gestellt.
Das Archiv bildet sozusagen das Gedächtnis eines Gemeinwesens und bestimmt auch dessen Identität. Stellen Sie sich einmal vor, Sie würden neben den vielen Dingen des Alltags auch ihr Gedächtnis verlieren, dann wüssten Sie nicht mehr, wer Sie sind und wo sie hingehören. Jede Veränderung eines Archivs hat Auswirkungen auf das Gemeinwesen und umgekehrt. Denken Sie an den Untergang der DDR und des damit verbundenen Bedeutungswandels des Stasi-Archivs, das jetzt nicht mehr der Unterdrückung, sondern der Aufklärung dient. Ähnlich war es mit den Archiven in der Französischen Revolution. Das gilt auch für das Archiv einer Stadt wie Mainz.
Wie das Gedächtnis oszilliert das Archiv zwischen Erinnern und Vergessen bzw. Verlust und Bewahrung. Für Verlust steht die »Kassation«, wie die Vernichtung von Archivbeständen in der Archivarsprache heißt, die aus Platzmangel von Zeit von Zeit vorgenommen werden muss. Die Aussonderungsprinzipien und Wertmaßstäbe, nach denen sie erfolgt, sind je nach Epoche variabel und werden nicht unbedingt von den späteren Generationen geteilt. Was in der einen Epoche als Abfall betrachtet wird und auf die Müllhalde kommt, kann in einer anderen Zeit als wertvolle Information behandelt werden. Behalten werden diejenigen Bestände, die man gerade als zukunftsrelevant erachtet, damit auch künftige Generationen auf der Erfahrung aus Jahrhunderten ihre Gegenwart begreifen und ihre Zukunft gestalten können.
»Wer die Vergangenheit beherrscht, beherrscht die Zukunft«, heißt es in George Orwells berühmtem Roman »1984«. Also achten wir darauf, wie die Mainzer Stadtväter mit dem Stadtarchiv und auch der Stadtbibliothek, die einen Schatz bedeutender historischer Schriften und Bücher birgt, im Zuge der geplanten Umstrukturierungsmaßnahmen umgehen. Der Weg zur Müllhalde ist ja nicht sehr weit. Schon allein der Gedanke an Struktur- und Personalkürzungen spricht der Stadt Gutenbergs Hohn. Erinnert sei auch an den Autor und leidenschaftlichen Sammler Walter Kempowski, der einmal anmerkte, dass man die Kultur eines Volkes nicht zuletzt an seinen Archiven zu messen habe. Das lässt sich auch sehr schön auf Mainz übertragen … 


Abdruck in: Mainzer Vierteljahreshefte für Kultur, Politik, Wirtschaft und Geschichte 1/12. www.mainz-hefte.de

... und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne

Mit Volksweisheiten ist das so eine Sache, wie man immer wieder feststellen muss. Mal treffen sie zu, mal wiederum nicht, obwohl sie in Zeiten des Wandels fortwährend als Orientierungshilfen angepriesen werden. 
Betrachten wir uns aus gegebenem Anlass einmal das Sprichwort »Aller Anfang ist schwer!« und gehen zurück zu den ersten Tagen des neuen Jahres. Wer in dieser vorsatzschwangeren Zeit in den Morgen- und Abendstunden am Rhein entlang flaniert, kann dort trotz Wind und Eiseskälte fast mehr Laufbegeisterte als im Sommer sehen. Umgekehrt verhält es sich in den Fastfoodrestaurants: eine gähnende Leere allüberall. Das liegt nicht etwa daran, dass die Menschen genug von den trägen, kalorienreichen Feiertagen haben, vielleicht auch das, sondern dass sie die hervorragende Gelegenheit des Jahreswechsels beim Schopfe gepackt haben, um ein neues Leben zu beginnen oder zumindest ein neues Vorhaben in Angriff zu nehmen. Und was hat man sich nicht alles vorgenommen: Man wird sich gesünder ernähren und abnehmen, Süßigkeiten meiden. Man wird mehr Sport treiben. Man wird häufiger ins Theater gehen, mehr lesen und es endlich ernst mit dem lebenslangen Lernen nehmen und eine neue Sprache lernen. Man wird sich mehr Zeit für die Familie, die Freunde gönnen etc. pp.
Sind diese Vorsätze auch noch so unterschiedlich, gemeinsam ist allen, dass ihr Anfang leicht ist, wie ein anderes Sprichwort besagt, und nicht schwer. Denn selbstverständlich wird am 2. Januar um 6 Uhr aufgestanden. Selbstverständlich wird erst einmal eine eiskalte Dusche genommen. Selbstverständlich joggt man nicht nur vom Kurfürstlichen Schloss bis zur Eisenbahnbrücke, sondern macht die berühmte Drei-Bücken-Tour und eine Umrundung von Stadt- und Volkspark gleich mit.
Ab dem 6. Januar gestattet man sich hin und wieder aber doch Dispens, indem man etwa eine Stunde länger schläft, weil man die Tage vorher doch so sportlich war. Oder man gönnt sich ein Frühstückshörnchen, weil es ja nicht unbedingt zu den Süßigkeiten zu zählen ist und weil man die Vorsätze bisher so vorbildlich eingehalten hat. Bald ist es wie bei einem porösen Luftballon, aus dem allmählich die Luft entweicht.
Was soll man nun glauben? Ist aller Anfang schwer oder leicht? Es scheint beides zu stimmen. Im Leben stimmen von zwei sich widersprechenden Weisheiten immer beide. Das macht es so entsetzlich kompliziert; zu kompliziert für den gesunden Menschenverstand. Machen wir es uns leichter, ziehen wir uns wie Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Sumpf und fangen ein neues Leben an …

Silvester-Voodoo


Halten Sie sich für ein vernunftbegabtes Wesen? - Ja?! - Aber warum huldigen Sie dann auf Schritt und Tritt dem Aberglauben? Kaum ein Tag vergeht, an dem wir nicht mit abergläubischen Symbolen und Ritualen herumhantieren. So wünschen wir anderen ein gutes Gelingen und wollen gleichzeitig verhindern, dass Böses geschieht, indem wir etwa »die Daumen drücken«. Oder wir achten darauf, dass sich die Hände beim Händeschütteln niemals überkreuzen. Die Liste ist lang. Gewiss, wir gebrauchen diese – sagen wir mal – magischen Praktiken nicht immer ganz bewusst, sehr oft aber ohne ihren ursprünglichen Sinn zu kennen.
Ganz besonders wird dies um den Jahreswechsel deutlich. Wer weiß denn schon, warum wir in der Silvesternacht ein Feuerwerk aufsteigen lassen? Weil’s schön ist, wird man sagen. Oder um das neue Jahr mit etwas Buntem und Prächtigem einzuläuten. – Nicht ganz.
Den Sagen und Legenden nach treibt in den Raunächten zwischen Weihnachten und dem Dreikönigstag ein Geister- oder Gespensterheer sein Unwesen. Deshalb haben die Menschen sich etwas einfallen lassen, um diesen Gefahren zu begegnen und ihr Glück zu sichern. So darf man in dieser Zeit keine Wäsche auf der Leine haben, worin sich die Geister bei ihrem Ritt durch die Lüfte verfangen können, um Unheil über die Menschen zu bringen. – Gottlob gibt es mittlerweile Trockner! – Auf diesen Dämonenglauben gehen dann auch die Böller in der Silvesternacht zurück, weil man glaubte, die Geister durch Lärm und Krach vertreiben zu können. Das gilt übrigens auch für das Gläserklirren in den ersten Sekunden des neuen Jahres. In dieser Nacht verfügen auch wir Menschen über ganz besondere Gaben: Nur jetzt können wir hinter den Vorhang blicken, um Verborgenes zu enträtseln und Zukünftiges zu enthüllen. Da wird orakelt und gependelt. Besonders beliebt ist das Bleigießen. Und nicht zuletzt die Silvester- und Neujahrswünsche. Als ob man zaubern könnte. Hierzu gehören auch die zum Jahreswechsel üblichen Verhaltensrituale: Wer an Silvester rote Unterwäsche trägt, hat im folgenden Jahr ein ausgefülltes Liebesleben. Wer Reiskörner in den Geldbeutel streut, bekommt Geld. Die Beispiele lassen sich fortführen.
Ist das alles Hokuspokus? - Nein, nicht unbedingt! Denn bei diesen Praktiken handelt es sich meist um nichts anders als Varianten einer sich selbsterfüllenden Prophezeiung. Die mit den Abwehr- und Verhaltensritualen verbundenen Wünsche und die Orakel erfüllen sich nur deshalb, weil sich diejenigen, denen sie gelten, meist unbewusst, so verhalten, dass sie sich erfüllen müssen. Der Glaube kann Berge versetzen. 
In diesem Sinne: Versenden Sie diese Glücks-Kolumne innerhalb der nächsten 3 Stunden an mindestens 10 Personen. Dann wird Ihnen das Glück im kommenden Jahr ganz sicher hold sein.

Der schöne Schein. Der Weihnachtsmarkt - ein Ort der Illusion?

Was hat es mit dem weihnachtlichen Gefühl auf sich, dem Gefühl von Harmonie und Geborgenheit, das in uns geweckt wird, sobald wir einen Weihnachtsmarkt betreten, obwohl wir im geschäftigen Treiben, dem Gedrängel, Gestoße und Geschiebe besonders um die Glühlweinstände herum nicht die geringste Spur von Harmonie finden? Hat es vielleicht etwas mit früheren Erlebnissen auf einem Weihnachtsmarkt zu tun, die wir als harmonisch abgespeichert haben? Das Gedächtnis schlägt einem manchmal ja ein Schnippchen. Es ist kein statischer Aktenordner oder ein verstaubendes Archiv. So erscheinen Erinnerungen an frühere Zeiten - zumal bei älteren Menschen - in immer rosigeren Farben. Da waren die Ferien schöner, die Menschen freundlicher, die Winter weißer und die Feste ausgelassener. In dieser allgemeinen Verklärung hat man sich selbst auch als glücklicher in Erinnerung, obgleich die Vergangenheit bei objektiver Betrachtung meist keineswegs so heiter, problemlos und beglückend war. Umgekehrt ist es bei schwermütigen Menschen.
© Christian Kohl 
Erinnerungen sind oft nicht steuerbar, sie entstehen aus dem Augenblick heraus. Das wohl berühmteste Beispiel stammt aus Marcel Prousts Roman »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«, in dem das Aroma eines in Lindenblütentee getauchten muschelförmigen Gebäcks namens Petite Madeleine plötzlich einen Schwall von Kindheitserinnerungen auslöst und damit den Roman in Gang setzt. Ähnlich ergeht es uns beim Duft von gebrannten Mandeln, gerösteten Maronen, Zimt, Nelken und Zuckerwerk jeder Art, wenn wir über den mittelalterlich anmutenden Weihnachtsmarkt schlendern. Wir fühlen uns in einen von allen Spannungen befreiten Raum in unserer Kindheit zurückversetzt, in eine glitzernde Märchenwelt, die es aber nie gab. Denn unser Gedächtnis ist so anschmiegsam, dass wir vieles einfügen können, was wir gar nicht erlebt haben, etwa Szenen aus Weihnachtsmärchen, Werbefilmen oder Weihnachtsfilmen der Disney-Traumfabrik, in der die Menschen stets gut zueinander sind. Das geschieht bei jedem von uns zwar auf unterschiedliche Art und Weise, kann aber dennoch zu einer einheitlichen Wirkung führen, in diesem Fall also ein diffuses Gefühl von Harmonie und Geborgenheit erzeugen, das von vielen Menschen geteilt wird, obwohl es jeglicher Grundlage entbehrt.
Man kann also von dem Weihnachtsmarkt als einem Ort leerer oder zumindest erlebnisarmer Erinnerungen sprechen, einem Ort der Illusion. Es ist wie bei den beliebten Volksmusiksendungen, in denen Sänger in Trachtenkleidern vor einem künstlichen Bergpanorama schlagermäßig aufbereitete Volkslieder zum Besten geben, um das Verlangen der Zuschauer nach Geborgenheit zu befriedigen. Die Illusion wird hier wie dort durch die vielen Kitschgegenstände noch verstärkt, die gleichsam Versatzstücke einer auf Gefühlsduselei ausgelegten Inszenierung sind. Auf dem Weihnachtsmarkt sind es etwa Handtücher mit Engelsbildern, Fensterbilder, Keramikwaren mit Aufdrucken der Weihnachtsgeschichte, also Gegenstände, die einem profanen Zweck dienen, aber primär ein religiöses Motiv darstellen oder mit einem religiösen Motiv geschmückt sind und es herabwürdigen, oder reine Dekorationselemente, die entweder als romantische Geschenkideen angepriesen werden, wie Christbaumschmuck und Kerzen, oder den Weihnachtsmarkt selbst schmücken, wie die Lichterketten, die in ihrer Gesamtheit einem Zelt nachempfunden sind, um einen beschirmenden Sternenhimmel zu imitieren.
Der Hang nach dieser helfenden Illusion stellt aber nichts Verwerfliches dar. Die Flucht aus der komplexen und komplizierten Wirklichkeit ist verständlich und das Kitschbegehren, das die Illusion von Harmonie und damit das Weihnachtsgefühl nährt, nahe liegend. Es gilt der Satz von Hundertwasser: »Die Abwesenheit von Kitsch macht unser Leben unerträglich.«


Abdruck in: Mainzer Vierteljahreshefte für Kultur, Politik, Wirtschaft und Geschichte 4/11, S. 5ff. www.mainz-hefte.de 

Der Kaiser ist nackt

Unschönes lässt sich oft mit schönen Worten ausdrücken. Man denke an so wohlklingende Ausdrücke wie »Entsorgungspark«, »sozialverträgliches Frühableben«, »Freistellung« oder »Minuswachstum«. Kein Wunder also, dass diese Ausdrücke bei Politikern beliebt sind, wie überhaupt bei Entscheidern jeder Art, wenn aus Motiven wie Profilierungs- und Profitdenken die eigenen Interessen ohne Gesichtsverlust durchgesetzt werden sollen; sicher auch um das schlechte Gewissen zu beruhigen. Zu diesen Ausdrücken gehört auch das schönes Wörtchen »Synergieeffekt«, das meist im Plural verwendet wird, wenn von Fusionen, Übernahmen und Schließungen die Rede ist.
© Christian Kohl
Damit Sie mich nicht falsch verstehen, ich habe nichts gegen Synergieeffekte, schließlich ist es ja gut, wenn man sich durch Zusammenarbeit gegenseitig stabilisiert oder wenn durch den Zusammenschluss zweier Firmen ein neues Unternehmen entsteht, das mehr leistet als die Summe beider Organisationen. Ich habe nur etwas gegen den falschen Gebrauch des Wortes, etwa wenn eine Organisation aus Kostengründen oder zum Nutzen der anderen zerschlagen wird. Das wäre dann nichts anderes als Demontage. Hierzu ein aktuelles Beispiel aus der Mainzer Politik: Im Rahmen der Sparmaßnahmen erwägen die Stadtväter, die Mainzer Stadtbibliothek zu schließen und die Bestände auf drei Standorte zu verteilen. Demnach käme das Stadtarchiv und Altbestände der Wissenschaftlichen Bibliothek in eine der künftig leer stehenden Grund- oder Hauptschulen, alte Handschriften etwa oder Inkunabeln ins Gutenberg-Museum und der Restbestand in die Universitätsbibliothek. Begründet wird diese Zerschlagung, denn um nichts anderes handelt es sich hier, mit jährlichen Einsparungen zwischen 1 Million und 1,5 Millionen Euro und den durch die Zusammenlegung von Stadt- und Universitätsbibliothek entstehenden Synergieeffekten. Wie aber kann man hier von Synergieeffekten sprechen, wenn es die Stadtbibliothek nicht mehr gibt und wenn  ihr Bestand, der eingefroren werden soll, in der Universitätsbibliothek aufgeht? Ist das nicht Täuschung?
Synergieeffekte könnte man erzielen, wenn man die Bibliothek beispielsweise optimal an das öffentliche Verkehrsnetz anbinden oder mit der Volkshochschule zusammenlegen würde, um etwa die Besucherfrequenz zu steigern. Das spült Geld in alle Kassen. Aber soweit denken manche Stadtväter ja nicht. Der Gestaltungswille geht ihnen leider völlig ab, auch der Sinn für Kultur und Bildung, von Tradition und Geschichte gar nicht zu sprechen. Stattdessen aalen sie sich lieber in wohlklingenden Worthülsen und schmücken ihre Stadt mit Titeln wie »Stadt des Buches« oder »Stadt der Wissenschaften«, die sich bei einer solchen Politik als publikumswirksame Placebos entpuppen. Man fühlt sich an Hans Christian Andersens Märchen »Des Kaisers neue Kleider« erinnert. Der Kaiser ist nackt. 

Sieg über das Wutvirus

Mainz ist auf dem besten Weg zu einer der bedeutendsten Städte der Bundesrepublik, ja vielleicht der ganzen Welt zu werden. Man denke etwa an so herausragende Titel wie »The Great Wine Capital« oder »Stadt der Wissenschaften«, oder auch an die neue Coface-Arena, die geplante Mainzelbahn und andere anstehende Projekte. Doch es scheint nur so. Denn wie weiland beim Turmbau von Babel wächst unter den Mainzer Bürgern von Tag zu Tag der Anteil der Spielverderber, die viel zu viel analysieren und allzu oft dunklen Gedanken nachhängen: Sie bezweifeln, ob dies alles zum Wohle der Stadt geschehe. Argwohn erregen vor allem Großprojekte wie Möbel Martin mit einer gigantischen Verkaufsfläche von 45.000 Quadratmetern, die in etwa der Fläche der diesjährigen Bundesgartenschau in Koblenz entspricht, oder das »Handelsquartier« an der Lu mit 30.000 Quadratmetern. Viele befürchten, dass am Ende mehr gebaut werde, als Kaufkraft existiere. Die Folgen lägen auf der Hand: Ladenschließungen, Arbeitslosigkeit, Verödungen ganzer Stadtviertel usw. usw.
Aber was nützen all die Befürchtungen und Einwände, wenn die Großprojekte doch durchgezogen werden? Was nützt dann wütender Protest? Man sieht es ja in Stuttgart. Oder noch weiter: an der Banken- und Schuldenkrise. Die wütenden Miesepeter sollten einfach positiv denken, das führt schon zum gewünschten Ziel, so jedenfalls suggerieren es die Motivationstrainer, Coachingexperten, Ratgeberautoren und Karrierescouts, die derzeit wie Pilze aus dem Boden schießen. Nach ihnen, können wir die Welt mittels unserer Gedanken beherrschen. In der Welt des positiven Denkens stellen sich die Probleme nur in unserem Kopf und lassen sich leicht durch Willensanstrengung meistern. In dieser Art Selbsthypnose können wir Armut, Arbeitslosigkeit oder niedrige Löhne als Chance begreifen und mit Optimismus ja Dankbarkeit begegnen. Wir sehen es an guten Verkäufern, die die Lügengeschichten, die sie manchmal erzählen, irgendwann selbst glauben. Oder denken wir an die Kraft positiver Worte. Mit Lob kommen wir weiter als mit Kritik. Das gilt auch hinsichtlich beschönigender Beschreibungen. Kein erwachsener Mensch käme wohl auf die Idee, mit einem Kinderroller durch die Stadt zu fahren, wenn man diesen nicht Kickboard nennen würde.
Also bewahren wir uns eine positive Haltung und bleiben wir offen. Wir brauchen nur wie ein Sieger und nicht wie ein Verlierer zu denken und Mainz erstrahlt in neuem Glanz. Der Erfolg ist garantiert. Und wenn er nicht eintritt und wir immer noch wütend sind, dann liegt es nicht am positiven Denken, sondern an uns selbst. Dann haben wir uns nicht genug Mühe gegeben, positiv zu denken.

Milchmädchenrechnung

Ich muss es offen aussprechen: Wie jeder Banker, Unternehmer, Politiker und überhaupt fast jeder, der mindestens ein Bankkonto besitzt und eine Versicherung abgeschlossen hat, hänge ich an Zahlen. Zahlen sind in einer immer komplexer werdenden Welt oft das Einzige, was Orientierung verspricht. Sie stellen etwas Stabiles dar, etwas, was Sicherheit vermittelt. Man spürt es schon im Umgang mit ihnen, etwa bei den Grundrechenarten. Hier gibt es immer nur eine richtige Lösung, ganz im Gegensatz zu den meisten Entscheidungen, die man tagtäglich treffen muss.
Das ist aber nicht der einzige Grund, warum ich eine Schwäche für Zahlen habe. Viel wichtiger ist, dass man mit ihnen spielen kann, dass sie unsere Fantasie anregen. Umfragen, Bilanzen, Statistiken sind doch nichts anderes als mehr oder weniger großartige paradoxe Spielereien. Es sind Zahlen aus der Vergangenheit, mit denen man spielt, um Voraussagen über künftige Ereignisse zu treffen, die so - wie vorausgesagt - aber nie eintreten können, weil die Voraussagen natürlich Verhaltensänderungen anschieben. Unsere Fantasien können sich an einigen wenigen Zahlen entzünden, die Rückschlüsse auf das Ganze zulassen. Nehmen wir z. B. die Zahl 684. So viele Geldspielautomaten in Spielhallen kommen nämlich auf 100.000 Rheinland-Pfälzer, auf einen Automaten also ca. 147. Rheinland Pfalz nimmt damit einen einsamen Spitzenplatz ein. Zwei Vergleichszahlen: In Hessen kommen 535 auf einen Automaten, in Berlin gar 963.
Das sind Zahlen, mit denen man wunderbar jonglieren kann, etwa indem man das Wesen des Rheinland-Pfälzers zu ergründen sucht. - Man bedenke, dass nur wenige Tintenspritzer, das Badewasser einfärben können. -  Zum Beispiel: Jeder weiß, dass am Spielautomat nicht wirklich etwas zu gewinnen ist, was dem Leben eine neue Richtung verleiht, wie beim Lottospiel oder auch im Kasino. Dem Rheinland Pfälzer genügt demnach das kleine Glück. Er baut keine traumhaften Luftschlösser. Er flieht aber dennoch vor der Realität. Denn vor dem Geldspielautomaten zählen weder Bildung, noch der Name, noch die Position. Vor dem Zufall sind alle gleich. In der Spielhalle gibt es auch keinen entscheidenden großen Kampf, der alles zum Guten wenden kann. Es gibt kein Ende. Hier fängt jeder immer wieder von vorne an. Auf den Rheinland-Pfälzer gewendet, kann man sagen: Der Weg ist sein Ziel. So kann man beliebig weiterspinnen. Man kann sagen, dass den Rheinland-Pfälzer dabei nichts aus der Ruhe bringt, - wie den Spieler, der in absoluter Anspannung und Aufmerksamkeit im Spiel aufgeht usw. usw.
Übrigens für die, die es nicht bemerkt haben, die Zahl 684 ist natürlich erfunden. Es kommen nur halb so viele Spielautomaten auf 100.000 Rheinland-Pfälzer. Immerhin noch genug, um den Spitzenplatz zu behaupten. Das ist denn auch der dritte Grund, warum ich mich für Zahlen begeistere: Man kann mit ihnen wunderbar lügen. 

Mainzer Pioniergeist. Eine verquere Betrachtung des Brandzentrums

Die Mainzer sind, das muss man bei näherer Betrachtung immer wieder feststellen, nicht nur ein äußerst feierlustiges, sondern auch ein ausgefuchstes Völkchen. Entgegen der herkömmlichen Meinung, welche die Mainzer als provinziell oder gar rückständig herabwürdigt, sind sie ihrer Zeit oft weit voraus. Der Fremde erkennt das nicht auf den ersten Blick. Wie auch, wenn ihm der Sinn dafür abgeht? Er versteht das nicht. Er kann damit nichts anfangen, zunächst nicht, - weil er allzu sehr in der Gegenwart gefangen ist. Man denke etwa an die Mainzer Republik - das erste auf bürgerlich-demokratischen Grundsätzen beruhende Staatswesen auf deutschem Boden - und die Reaktion der Preußen und der hessischen Nachbarn darauf. Von so prominenten Mainzern wie Rhabanus Maurus oder Johannes Gutenberg gar nicht zu reden. 
Aber man braucht gar nicht so weit zurückzugehen. Wer sind denn die eigentlichen Vorreiter der Fast-Food- und Coffetogo-Kultur? - Natürlich die Mainzer. Denn was ist die Mainzer Brezel, die man schon immer gerne auf der Straße im Vorbeigehen verspeist, anderes als die Vorform des Hot-Dogs und des Hamburgers.

Auch in der Architektur sind die Mainzer Pioniere. Sinnfälliges Beispiel ist der Dom - und auch der Brand. Denn gerade der Brand stellt in der Zeit seiner Errichtung in den frühen 1970er Jahren etwas völlig Neues dar, das man erst seit einigen wenigen Jahren zu würdigen in der Lage ist.
Die Abänderung des Entwurfs des dänischen Architekten Arne Jacobson durch den Mainzer Architekten Heinz Lautbach kann man zunächst einmal als eine Abkehr von den formalen Experimenten öffentlicher Bauten der 1960er und 1970er Jahre hin zu einer pragmatischen Haltung deuten, die weitgehend von den Bedürfnissen der Marktwirtschaft bestimmt wird und das Primat des Ökonomischen der kommenden Jahre vorwegnimmt. Dementsprechend reiht sich ein Ladengeschäft an das andere. Das ist auch nach den Umbaumaßnahmen der letzten Jahre so geblieben, die sich an dem Konzept der 1970er Jahre orientieren.
Das gesamte Brandzentrum besitzt noch immer - was in den 1970 Jahren hipp und chic war - den Charme einer überirdischen U-Bahnstation mit angegliederten Geschäften, auch wenn es sich jetzt zum Rathausplatz optisch ausweitet. Außer einem Eiscafé und insgesamt neun Metallbänken auf dem zentralen Platz - fünf um die drei Wasserbecken, die man Brunnen schimpft und doch nichts anderes als vergessene Pferde- und Hundetränken sind und vier um den Lebensbaum aus Donaukalk, der mitten in einem wie bei einer Begräbnisstätte eingefassten Blumenbeet steht - gibt es keine Kommunikationsmöglichkeiten und Ruhezonen. Hierzu kann man vielleicht auch noch das doppelgrabgroße Karree mit den drei in Beton eingelassenen Federwippen und das dazugehörige buntgestreifte Zweimeterhäuschen zählen.
Ansonsten ist nach wie vor alles auf Einkauf und Verkauf ausgerichtet. Hier wird nicht wie vielerorts gejoggt, geskatet, gewalkt oder gebruncht. Auch Flash- und Smartmobs, bei denen sich viele Menschen zu absonderlichen Kurzaktionen verabreden, finden hier nicht statt. Obwohl das Brandzentrum außerhalb der Geschäftsöffnungszeiten nahezu menschenleer ist, dient es auch da nicht, wie man es bei niedrig frequentierten überdimensionierten Zweckbauten vermuten könnte, als Übungsplatz für das so genannte Parcouring, einer Sportart, bei der alle möglichen Hindernisse wie Bänke, Mülltonnen, Mauern, Schluchten übersprungen oder überklettert werden. Hier findet man keine Graffitis, keine Street-Art und kein Guerilla-Gardening, wo betonierte und gepflasterte Straßenränder in kleine Blumenbeete verwandelt werden.
Kurzum: Das Brandzentrum ist noch immer kein Ort des öffentlichen Lebens. Das aber nimmt der Mainzer im Großen und Ganzen gar nicht als störend wahr. Denn der burgähnliche Komplex mit den stark gefalteten Fassaden und den terrassenförmigen Etagen erfüllt für ihn eine ganz andere, viel wichtigere Funktion, worin der Mainzer Pioniergeist eigentlich erst richtig zum Ausdruck kommt: Im Zuge der Globalisierung ist es mittlerweile fast gleichgültig, ob man sich in Mannheim, Dortmund oder Köln befindet. Überall findet man McDonalds, Starbucks, H&M und Co. Die Einkaufsstraßen der westlichen Städte sind voll mit internationalen Ladenketten, sie sind zu einem austauschbaren Bild geworden. Das Brandzentrum nun verhindert diese zunehmende Angleichung des Mainzer Stadtbildes, mit denen anderer Städte und den Verlust der ortsspezifischen Charakteristika, indem es diese Ladenketten innerhalb seiner mit graugrünem Quarzitschiffer verkleideten Mauern wie in einem mittelalterlichen Ghetto zusammenpfercht. Es wäre nur noch zu hoffen, dass auch die unterirdischen Parkdecks des Brandzentrums zu solcher Art Ghettoisierung umfunktioniert werden würden. 

Abdruck in: Mainzer Vierteljahreshefte für Kultur, Politik, Wirtschaft und Geschichte 3/11, S. 5ff. www.mainz-hefte.de 

Was ist nur mit unseren Politikern los?


Wissen Sie eigentlich, was Spitzenpolitiker wirklich denken, und was sie sagen, wenn kein Journalist, keine Kamera und kein Mikrophon in der Nähe ist? Oder wenn sie sich unerkannt glauben? - Nein? Offen gestanden, ich auch nicht. Meine Erfahrung mit dem geheimen Gedankenhaushalt eines Politikers beschränkt sich lediglich auf ein paar wenige Lokal- und eins, zwei unbedeutende Landespolitiker. Aber auch das kann manchmal sehr aufschlussreich sein:
© Christian Kohl
Nehmen wir zum Beispiel diesen jungen Landtagsabgeordneten - sein Name soll hier ungenannt bleiben -, der letzten Samstag beim Mainzer Marktfrühstück vor mir in der Schlange am Kaffeewagen stand. Er wirkte kompetent, zumindest verstand er es, sein Jackett in den wenigen Minuten, die er vor mir stand, mehrmals dezent auf- und zuknöpfen.
Ich begann mich gerade äußerst lebhaft mit einer Freundin über den möglichen Kauf eines Bauernhauses im Rheinhessischen zu unterhalten, als er sich lächelnd umdrehte und rundheraus erklärte, dass auch er und seine Frau sich vor einiger Zeit überlegt hätten, ob sie sich ein Haus auf dem Lande kaufen sollten. Sie hätten sich aber dagegen entschieden. In der langatmigen, wortreichen Sprache eines Politikers zitierte er daraufhin eine Studie, wonach sich die medizinische Versorgung auf dem Lande in den nächsten zwanzig bis dreißig Jahren enorm verschlechtern würde.
Ich wollte schon entgegnen, dass dies doch nicht unbedingt der Fall sein müsse, dass die Politik dem ja entgegensteuern könne. Doch dann kam schon der Gedankensprung: »Das hat natürlich auch Konsequenzen auf die Immobilienpreise«, sagte er  und nahm seinen Latte macchiato in Empfang. »Stellen Sie sich vor, Sie kaufen sich jetzt ein Haus für fünfhunderttausend, und in fünfzehn Jahren, wenn sie es abbezahlt haben, ist es nur noch die Hälfte wert. - Das wollten wir nicht!«
Nun ist Politiker-Bashing eigentlich so gar nicht meine Sache. Doch ich frage mich noch heute, ob ein Politiker, auch ein Landespolitiker, überhaupt so argumentieren darf? Macht er sich damit denn nicht selbst überflüssig? Wo bleibt der Gestaltungswille, der den Politiker, wie ich bisher dachte, gerade ausmacht, wenn alles dem Markt, dem Schicksal oder wem auch immer überlassen bleibt? Der menschlichen Kreativität sind kaum Grenzen gesetzt. Es ist doch immer wieder erstaunlich, wie viele Produkte der Mensch aus Milch herzustellen versteht, oder was er mit 26 oder 30 Buchstaben auszudrücken in der Lage ist…
Fühlt sich der einzelne Abgeordnete aufgrund der vielfältigen Zwänge von Fraktionen und Parteiapparaten, wie eine andere Studie besagt, vielleicht einfach machtlos, um für die Interessen seiner Wähler einzustehen? Dann muss man sich als Wahlbürger aber leider fragen, wozu man ihm denn seine Stimme gegeben hat. 

Und es bewegt sich doch!

Eine Stadt lebt von Bewegung. Man könnte auch sagen, Bewegung ist ihr Leben. Das ist bei Menschen, die einen wesentlichen Teil dessen ausmachen, was wir Stadt nennen, auch nicht anders. In einer Erzählung von Joseph Conrad wird der an Tuberkulose erkrankte Titelheld James Wait auf einer Schiffsfahrt von Bombay nach London gefragt, warum er die Reise trotz seiner Krankheit angetreten habe. Woraufhin er antwortet: »Ich muss leben, bis ich sterbe - oder nicht?« Eine triviale und dennoch außergewöhnliche Antwort, die seine Reise mit seinem Leben gleichsetzt, eine Offenlegung der Motive aber schuldig bleibt. 

Die Gründe, warum wir uns in Bewegung setzen und nicht in Trägheit verharren, sind sehr vielfältig und abhängig von unseren jeweiligen Bedürfnissen, allen voran den Grundbedürfnissen. Eine wichtige Rolle spielt das Geld. Wobei zu viel davon, was der Neoliberalismus mit Bedacht verschweigt, wiederum träge macht. Linda Evangelista, eines der bestbezahlten Fotomodelle der 1990er Jahre, sagte einmal: »Für unter 10.000 Dollar am Tag, stehen wir gar nicht erst auf.« 

©  Christian Kohl
Die betuchten Trägen bewegen sich nur, wenn es nicht mehr zu vermeiden ist, und wenn es an ihre Pfründe geht, auf die sie ein natürliches Anrecht zu haben glauben. Das gilt auch bei jeder Art von staatlicher Alimentierung, was man im Zuge von Sparmaßnahmen immer wieder beobachten kann. Nehmen wir die Spar-Diskussion um das Mainzer Staatstheater: Jetzt endlich verlassen auch die trägen Theaterleute ihre ummauerte Festung, um Verbündete im Kampf gegen den Rotstift zu suchen und ganz nebenbei, weil es gerade nützlich ist, auf hohem Ross den Untergang der Kultur zu beklagen.
Wie lange haben wir darauf gewartet, auch wenn sie mit einer Affenliebe an überkommenen feudalen Strukturen festzuhalten versuchen! Dachten wir doch schon, das hohe Haus scheue den Umgang mit uns Mainzer Bürgern. Wir seien ihnen nicht gut genug. Wie viele Mainzer Schauspieler, Regisseure und Autoren müssen ihr Brot in fremden Landen verdienen, anstatt in ihrer Heimat zu brillieren! Wie viele Mainzer haben schon damit begonnen, das Theater als Fremdkörper im kulturellen Leben der Stadt zu betrachten und sich seine Öffnung zu wünschen! Denkbar wären Kooperationen mit den unzähligen und unterschiedlichsten Kulturprojekten, die ein Kellerdasein fristen, - und zwar nicht, weil es ihnen an Qualität, sondern an finanziellen Mitteln mangelt. Oder eine Nacht des Theaters mit Spielstätten überall in der Stadt… 

Aber damit sich in Mainz noch mehr bewegt, wäre es an langsam an der Zeit, sich auch die Palliativrhetoriker in Politik und Wirtschaft vorzunehmen und gegen die selbst verordneten Diäten, die fetten Unternehmergewinne, die saftigen Abfindungen von ausscheidenden Vorstandsmitgliedern und die Ämterhäufung anzugehen.


Mainzer Wohlfühlkompetenz

Wer in diesem Frühling des Öfteren kurz nach Sonnenaufgang am Viktor-Hugo-Ufer entlang spaziert, kennt die zehn bis fünfzehn weiß gewandten Männer und Frauen mittleren Alters schon, die dort fast täglich, mit ebenso weißen Baseballschlägern oder anderen keulenartigen Gerätschaften bewaffnet, scheinbar regungslos um einen Haufen Pappkartons in allen Größen und Formen zusammenstehen. Er wundert sich auch nicht mehr, wenn dieses Grüppchen, das in dieser frühen Morgenstunde von weitem ein wenig an die Elfen Tolkiens erinnert, plötzlich damit beginnt, auf die leeren Pappkartons einzuprügeln, bis diese ganz platt sind und dabei »Stärke deinen Morgen!« zu murmeln.
Das, was hier wie eine esoterische Zeremonie oder asiatische Kampfsportart daher kommt, ist nichts anderes als »Container Bashing«, ein neuer Wellnesstrend, der an den Stränden Südkaliforniens entwickelt wurde, damit kleinere und mittlere Angestellte im Dienstleistungsbereich ihr Aggressionspotential neutralisieren und so im Job tausendprozentig funktionieren können. »Container Bashing« soll vor allem dem Burnout-Syndrom vorbeugen, indem es die aggressiven Impulse etwa im Umgang mit ungebührlichen Kunden, aber auch mit fordernden Vorgesetzten nach außen ableitet, ohne dass sie sich nach innen richten können und man sich selbst beschädigt. Das ermöglicht dem Einzelnen, neue Energie aufzutanken.
©  Christian Kohl
Ähnlich wirken auch die so genannten Kuschelpartys, bei denen sich einander fremde Menschen treffen, um für zwanzig Euro in ruhiger und angenehmer Atmosphäre bekleidet miteinander zu kuscheln. Wobei hier allerdings das entspannende Moment im Vordergrund steht.
Blickt man aber in die Gesichter sowohl der Kuschler als auch der Container-Schläger, dann muss man feststellen, dass sie nicht besonders glücklich wirken. Sie strahlen wie fast alle, die sich neuen Wellnesstrends verschrieben haben, eher so etwas wie luxuriöse Leblosigkeit aus. Es ist wie mit Menschen, die sich für sportlich halten, weil sie im Trainingsanzug die Sportschau gucken. Statt Kartons einzuschlagen und sich mit Aloe-Vera-Keksen vollzustopfen, sollten sie sich doch eher auf das Mainzer Wesen zurückbesinnen, wenn es ihnen »bis zum Kracheknebbchen (Kragenknöpfchen) steht« und in ebendieser Sprache »die Sterne vom Himmel runterschenne«. Für jede Lebenssituation gibt es unnachahmliche Mainzer Wörter und Sprüche etwa, wenn der Chef den Lohn kürzen will, um am Markt bestehen zu können: »Sie babbele e Blech zusamme, ei merr hört’s jo schunn klimpern«. Adressatengerichtetes Schimpfen - und gerade auf Määnzerisch - löst innere Spannungen, baut Aggressionen ab, beugt psychosomatische Krankheiten vor und erhöht nicht zuletzt das Selbstwertgefühl, alles Dinge, die uns Wellness verspricht. 


Abdruck in: Lokale Zeitung Mainz Mai 2011. www.lokalestadtausgabe.de

Ich bin dann mal still

Was wäre, wenn Sie und alle anderen Leser die Lektüre dieser Kolumne nach dem ersten Satz beenden würden? Dann hätte ich natürlich ein Problem. Denn dann hätte ich die Kolumne umsonst geschrieben. Das zeigt wie wichtig Aufmerksamkeit ist.
Die Aufmerksamkeit des anderen zu gewinnen, gehört wohl wie Essen und Trinken zu den Grundbedürfnissen des Menschen. Wir halten es einfach nicht aus, keine Rolle im Seelenleben der anderen zu spielen. Ja, wir nehmen sogar bleibenden Schaden, wenn wir kein Mindestmaß an Zuwendung beziehen. Aufmerksamkeit ist heute allerdings - angesichts der Informationsfülle und Reizüberflutung - eine äußerst knappe Ressource, um die ein regelrechter Kampf entstanden ist. Alles will und muss auffallen: das Produkt, der Politiker, die Nachricht, der Film, die Show, die Stadt … ja, auch wir selbst. Früher konnte man das noch durch ein außergewöhnliches Outfit erwirken, heute aber, wo alles Ausgefallene sofort zur Mode wird, funktioniert das nicht mehr. An dessen Stelle ist das Dampfgeplauder also das inhaltslose, oftmals widersinnige Geschwätz getreten, das mit vokalreichen, meist englischen Begriffen wie »Performance«, »Rebranding«, »Meeting« - um nur die gängigsten zu erwähnen - angereichert wird. Das ist zwar alles nicht neu, denn unsere Sprache ist gespickt mit substanzlosen Lehnwörtern und inhaltsleeren Wortneuschöpfungen, die das Mittelmaß und die mangelnde Kompetenz des Redners kaschieren sollen. Doch neu muss es sich anhören, und wichtig, so als ob man die Welt gerade selbst erschaffen hätte. Worte sind heute des Kaisers neue Kleider. Sätze wie »Sorry, ich hab gleich ein Date« werden mit einer solchen Vehemenz und papageienhaften Penetranz vorgetragen, dass wir gar nicht umhinkommen, den Redner für eine unabkömmliche und beliebte Persönlichkeit zu halten. Wir lassen solches Geplapper unhinterfragt über uns ergehen, sind beeindruckt und werden dabei selbst angesteckt. So hörte ich mich neulich wie ferngesteuert plappern: »Das finde ich irgendwie klasse, aber auch ziemlich strange.« Hauptsache irgendetwas gebabbelt, möchte man da sagen. Denn der Satz bedeutet eigentlich nichts und ist nichts als heiße Luft. Es war lediglich der Versuch, eine als unangenehm empfundene Redepause abzuwenden und mich in den Vordergrund zu drängen.
Kurzum: Wir hören nicht mehr zu. Wir denken nicht mehr nach. Und trachten nur noch danach uns selbst zu »verkaufen«. Vielleicht auch, weil wir es müssen. Man könnte ja die Fastenzeit zum Anlass nehmen, um sich hin und wieder mal in Schweigen zu üben. Das andere ergibt sich daraus sicherlich. - Ich bin dann mal still! 

Gewohnheitsblind

Wir Menschen sind Gewohnheitstiere. Daran gibt es nichts zu rütteln. Dies gilt im Besonderen, wenn es um unseren Alltag geht. Viele, wahrscheinlich die meisten, unserer Handgriffe sind so routiniert, dass sie ausgeführt werden, ohne dass wir großartig darüber nachdenken müssen. Erst wenn etwas den gewohnten Ablauf behindert, fällt uns auf, dass wir mechanisch gehandelt haben. – Lassen Sie sich doch mal bei morgendlichen Tätigkeiten wie dem Toilettengang, der Zeitungslek-türe oder dem Eierköpfen stören. Der ganze Tag gerät aus den Fugen.

                  © Christian Kohl
Gewohnheiten und Rituale scheinen ein stabilisierender Faktor für die Psyche zu sein. Sie helfen uns, uns im Leben zurecht zu finden, schleusen uns durch den Alltag, dienen der Angstabwehr und sorgen für Halt und Struktur. Sicher wirken sie auch lebensverlängernd. Nicht umsonst ver-suchen wir liebgewordene Gewohnheiten durch neue zu ersetzen, wenn wir sie aufgeben müssen. Das treibt manchmal seltsame Blüten, die uns bei anderen häufig zwanghaft erscheinen, und es vielleicht auch sind. Etwa wenn der andere zuhause angekommen sofort den Computer hochfährt, um seine Mails zu checken, oder den Anrufbeantworter abhört. Da wäre z. B. auch der ständige Blick auf das Handy, womit der Mangel an sozialen Beziehungen kompensiert und eine gewisse innere Unruhe zum Ausdruck gebracht wird. Oder die Konsultation von Horoskopen und Wahrsagern bei jeder, auch der unbedeutendsten Entscheidung. Das können wir alles irgendwie nachvollziehen, hängt es doch mit dem Bemühen nach Sicherheit und Halt in einer unruhigen schnelllebigen Zeit zusammen. Außerdem gewöhnen wir uns ganz schnell auch an unvernünftige Dinge und nehmen sie als normal hin, wenn sie nur von genug Artgenossen praktiziert werden.
Wie ist das aber mit Gewohnheiten und Ritualen, die nur von wenigen oder einer bestimmten Gruppe von Menschen ausgeübt werden? Nehmen wir die Installateure. Wie in schamanistischen Ritualen stehen sie bei der alljährlichen Wartung mit maskenhaftem Gesicht beschwörend vor der Gastherme, schrauben sie auf und schrauben sie wieder zu, wobei sie kopfschüttelnd und lautmalend kein gutes Haar an ihren Vorgängern lassen. Nun, auch das nehmen wir als normal hin, auch wenn wir etwas irritiert daneben stehen. Und die Rituale bei Politikern? Etwa am Wahlabend? – Auch das ist eine altgewohnte und daher für uns normale Prozedur. Obwohl gerade dieser formelhaft heruntergebetet kleine Satz »Wir haben einen guten Wahlkampf geführt!« uns eigentlich immer wieder stutzig machen müsste. Denn sollte es nicht um gute Regierungs- oder Oppositionsarbeit gehen? Fußballer sagen ja auch nicht »Wir haben uns schön die Haare gekämmt«, bevor sie sich ans Spiel machen. 

Pawlowscher Hund


 Mittlerweile weiß jeder, dass Geräusche, die mit technische Neuerungen gleich welcher Art verbunden sind, unser Denken und Verhalten beeinflussen, auch wenn sie schon lange verstummt sind. Sie kennen das: Ganz plötzlich hält der Vorder- oder Nebenmann im Bus oder Büro, auf der Straße oder in der Kneipe mitten in seiner Bewegung inne – oder in einem Gespräch, das er gerade führt, –  und spitzt die Ohren, als habe er die Engel im Himmel singen hören, obwohl nichts dergleichen zu vernehmen ist. Eine Zehntelsekunde später fängt er aus ebenso unerfindlichen Gründen an zu zucken, als sei ein Dämon in ihn hineingefahren, und hektisch, ja verzweifelt seinen Körper abzuklopfen. Frauen tun so, als horchten sie an ihren Handtaschen, bevor sie diese wie wild geworden durchwühlen. Manchmal werden diese Suchbewegungen mit Ausrufen wie »War da nicht was?« oder »Seid mal kurz still!« begleitet. Aber da war nichts, außer der alltäglichen Hintergrundgeräusche. Der kontrollierte Blick des Nebenmannes auf sein Handy, das er nun endlich hervorgekramt hat, macht es deutlich: alles nur Einbildung.
Phantomklingeln nennt man dieses Phänomen, das sich mit der Einführung des Mobiltelefons immer weiter ausbreitet. Man hört sein Telefon, obwohl es gar nicht klingelt. Es rührt daher, dass wir in unserer Wahrnehmung wie ein Pawlowscher Hund auf unseren Klingelton geeicht sind. Besonders in angespannten Situationen, wenn wir eine Nachricht oder einen Anruf erwarten, hören wir aus der Geräuschkulisse, die uns gerade umgibt, aus dem Brummen und Summen, dem Fiepen und Piepen, den Werbe-Jingels, Sound-Logos und dem Wohlfühlgedudel das heraus, was unserem Klingelton annähernd entspricht.
Eine ähnliche Art von Gehör-halluzination ist der Ohrwurm. Die Amerikaner sprechen von »Klebeliedern«, die Franzosen von »Ohrbohrern«. Gemeint sind Lieder, die in den unpassendsten Momenten in unserem Kopf auftauchen und sich für mehrere Stunden in unser Gehirn schrauben. Auch hier reicht oft schon ein einziger Ton, um die ganze Melodie in unserem Kopf entstehen zu lassen, so als ob sie gerade irgendwo in einem Radio spiele.
Akustische Halluzinationen gibt es aber auch auf einem ganz anderen Gebiet, was den Einfluss der Geräusche auf unser Denken und Handeln besonders verdeutlich. Nehmen wir an, Sie fahren täglich mit der Straßenbahn vom Hauptbahnhof zum Gautor und bei jedem Halt wird die aktuelle Haltestelle ausgerufen. »Schillerplatz-Juwelier Willenberg« hören Sie es dann jeden Tag gleich zwei Mal aus den Lautsprechern tönen. Da ist es doch kein Wunder, dass Sie jedes Mal dann, wenn Sie sich am Schillerplatz verabreden, oder wenn vom Schillerplatz die Rede ist »Juwelier Willenberg« mithalluzinieren. Das Gleiche gilt für »Münsterplatz - Kinderladen«, »Fischtor - Identity AG« oder wie die Haltestellen seit neustem alle heißen …